Cocktails, gebrannte Wasser, Zigarrendunst -- die Gespräche an Orlandos Bar drehen sich um Medienkritik, Kultur, Philosophie, um Gesellschaftspolitik, Religion, Familie und Erziehung, um Mann und Frau -- und ums Kochen. Gejammer, Gelächter, Angeberei sowie gepflegte Beschimpfungen sind an der Tagesordnung.



Samstag, 5. März 2011

In the cannon's mouth - die sieben Stadien


All the world's a stage
And all the men and women merely players:
They have their exits and their entrances;
And one man in his time plays many parts, His acts being seven ages.

At first the infant,
Mewling and puking in the nurse's arms.
And then the whining school-boy, with his satchel
And shining morning face, creeping like snail
Unwillingly to school. And then the lover,
Sighing like furnace, with a woeful ballad
Made to his mistress' eyebrow. Then a soldier,
Full of strange oaths and bearded like the pard,
Jealous in honour, sudden and quick in quarrel,
Seeking the bubble reputation
Even in the cannon's mouth. And then the justice,
In fair round belly with good capon lined,
With eyes severe and beard of formal cut,
Full of wise saws and modern instances;
And so he plays his part. The sixth age shifts
Into the lean and slipper'd pantaloon,
With spectacles on nose and pouch on side,
His youthful hose, well saved, a world too wide
For his shrunk shank; and his big manly voice,
Turning again toward childish treble, pipes
And whistles in his sound. Last scene of all,
That ends this strange eventful history,
Is second childishness and mere oblivion,
Sans teeth, sans eyes, sans taste, sans everything.

(W. Shakespeare, As you like it, Jaques' Monologue, Act II., Scene VII)

17 Kommentare:

  1. shakespeare vs. goethe? die vanitas der weltlichen schaubühne vs. die elpis der urworte? oder gibt es am ende gar keinen gegensatz, weil shakespeare selbst an jaques' im zeitgeist (theatrum mundi) verhafteten worten nachhaltig kritik übt?

    und wer wären denn sie, orlando: der richter, der vorgibt, ein soldat zu sein, oder ein soldat in der gestalt des richters? ich behalte lieber meine narrenkappe auf.

    "Stones taught me to fly
    Love, it taught me to lie
    Life, it taught me to die
    So it's not hard to fall
    When you float like a cannonball"

    (liedunabhängiges zitat)

    jaques ist ein schwacher narr. möchte man da doch nicht lieber orlando sein - oder rosalind?

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  2. Das kommt davon, wenn man Monologe - über die man irgandwann aus irgendeinem Grund stolpert - aus ihrem dramatischen Kontext reisst: jemand (wie so eine mila) ist bestimmt schneller und nörgelt daran herum, was man sich in aller Ruhe am Sonntagmorgen ergoogeln wollte: worum geht es in As you like it überhaupt und wer ist diese Figur Jaques?

    Nun denn, Recht hat die Frau natürlich. Im Waldidyll ist Jaques der zynische Melancholiker, der grossmäulig-pessimistische Poet Jaques ein launischer Aussenseiter, ihm fehlen erotische Freude und der edle Esprit meines Namensvetters und Rosalind.

    Und trifft das nicht auch ein wenig auf O. zu - ein schwacher Narr?

    Nein, ich war on ganz anderem Zusammenhang auf der Suche nach den sieben Stufen des Lebens und der Herkunft dieser Konstruktion: in jener anderen Interpretation ist die vierte Stufe nämlich Kampf (F-Dur).

    1. Geburt
    2. Kindheit
    3. Jugend
    4. Kampf
    5. Reife
    6. Alter
    7. Tod

    Ein Balladenschmied bin ich nicht, eher schon "jealous in honour" und "quick in quarrel". Wobei auch der "fair round belly" permanent zu bekämpfen ist.

    Ich hatte letzte nacht einen seltsamen Traum. Ein barocker, dunkler hoher Raum, Wandteppiche, samt, dicke Vorhänge und hohe Büchergestelle an der Wand. In der Mitte ein kolossales Bett, darauf in weissem Nachtgewand eine blondgelockte, üppige Matrone in lasziver Stellung. Von draussen drangen Hundegebell und Rufe von Häschern herein. Sie schienen mich zu suchen und töten zu wollen. Todesfurcht. Ich sass auf einem Schemel vor der Bettstatt in schäbigen Kleidern und Barfuss, auf dem Schoss der Laptop. Die Matrone, eine wirkliche Rubensdame, diktierte mir unablässig Sätze die ich festhalten wollte. Aber der Laptop fiel bei jedem Anschlag mehr auseinander, wurde dann schwabbelig und zerfloss in meinen Händen.
    Was dann geschah, weiss ich nicht sehr genau, ob es in Wollust endete oder die Häscher in den Raum stürmten: ich kann es nicht genau sagen. Vielleicht war es auch beides zusammen.

    Ich gebe nicht sehr viel auf Traumdeutung, Träume sind Schäume. Aber der war wirklich sehr klar und deutlich.

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  3. während sie jaques nachspürten, verbrachte ich den heutigen tag mit einer anregenden parallellektüre: dem strausseschen bocksgesang und dem tagi magi artikel von jürg acklin. im gegenseitigen dialog erwiesen sich beide texte höchst erhellend.

    eins verstehe ich nicht: weshalb wird nietzsche immer nihilismus unterstellt, meist von leuten, die selbst tief im nietzscheanischen vokabular verfangen sind: "Anders als die linke, Heilsgeschichte parodierende Phantasie malt sich die rechte kein künftiges Weltreich aus, bedarf keiner Utopie, sondern sucht den Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte, ist ihrem Wesen nach Tiefenerinnerung und insofern eine religiöse oder protopolitische Initiation. Sie ist immer und existentiell eine Phantasie des Verlustes und nicht der (irdischen) Verheißung. Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis Hölderlin."

    wäre es nicht angemessener, nietzsche als frühgeborenen ernst zu nehmen, als existentialisten schlechthin?

    im umgang mit träumen bin ich vorsichtig. zu oft wurde ich von piraten niedergemetzelt, von schemenhaften gestalten gejagt, in geschlossenen räumen gefangen gehalten. bis heute bin ich mir nicht sicher, was solche botschaften aussagen. eines scheint mir jedoch festzustehen: je klarer träume scheinen, desto unbedeutender sind sie in der regel.

    hielten sie es für arg vermessen, wenn ich ihnen sagen würde, dass BB ihnen besser zu gesicht steht als jaques' spöttisch heruntergebrochene version des soldaten wie des richters? ob sie die aussage auf die maske von orlando beziehen wollen, bleibt ihnen überlassen.

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  4. welche anspielung sich hinter dem verweis auf f-dur und/oder auf die traumszenerie verbirgt, entzieht sich meiner kenntnis - trotz google-recherche. für einmal sprechen sie in rätseln, orlando.

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  5. Haha, nein meinen Traum finden sie vermutlich nicht auf Google. Vielleicht gibt es ja Traumdeutungs-Websites, wo man die Elemente eingeben kann und hinten raus kommt eine vollständige Analyse?

    Partus - Pueritia - Adulescentia - Iuventa - Senior aetas - Senectus - Mors

    Irrtum, es beginnt in F-Moll und endet mit deutlicher Tendenz in Es-Moll. Es handelt sich um ein Werk eines ihrer "Nachbarn", mila, er ist allerdings bereits seit 30 Jahren tot. Es-Dur ist eine kraftvolle, heroische Tonart, ihre Einfärbung in Moll lässt eine Wendung ins Negative erahnen.

    Tagimagi lese ich nur sporadisch., wenn es mir in die Hände fällt, seit Binswanger (ein Bruder?) sein links-schwules Feuilleton installiert hat, das sich viel zu wichtig nimmt, als es ist. Und wegen Michèle Roten gehe ich nicht extra zum Kiosk.
    Was hat denn Acklin geschrieben?

    Botho Strauss ein Nietzscheaner? Sie kennen sich da besser aus. Was meinen sie?
    Gibt es eigentlich Nietzscheaner?

    Ich habe den Bocksgesang gestern noch überflogen. Ich fand eigentlich, dass da mehr "politisch-philosophisch Verwertbares" drin ist, als ich vermutet hatte (es sind auch 20 Jahre als ich das zum letzten Mal las und wohl nicht recht begriff, ausser einem bockigen Aufbegehren gegen Liberalismus und Konsumismus, das mir damals sehr zupass kam).

    Mila, im Gegensatz zu meinem Traum verstehe ich unseren Dialog (wenn es denn einer ist) nicht so sehr in dem Sinne, dass ich ihnen Bröckchen, Fleischstücke zuwerfe, die sie dann kunstvoll zu einem perfekt gewürzten Bifteck Tatar oder einem vollendeten Tournedos Rossini verarbeiten - wie ein Hündchen, dem man Stöcke wirft im Wald. Manchmal ist es auch bloss ein lockeres Kolloquium.

    BB scheint mir ohne die Sehnsucht auf eine bessere Welt und ohne die Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, das Herz links zu tragen, an die Sache - ja - zu glauben, einen etwas schalen Beigeschmack zu haben. Die Bukower Elegien muss ich wiedermal hervorkramen.

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  6. Immer wenn uns
    Die Antwort auf eine Frage gefunden schien
    Löste einer von uns an der Wand die Schnur der alten
    Aufgerollten chinesischen Leinwand, so daß sie herabfiele und
    Sichtbar wurde der Mann auf der Bank, der
    So sehr zweifelte.

    Ich, sagte er uns
    Bin der Zweifler, ich zweifle, ob
    Die Arbeit gelungen ist, die eure Tage verschlungen hat.
    Ob, was ihr gesagt, auch schlechter gesagt, noch für einige Wert hätte.
    Ob ihr es aber gut gesagt und euch nicht etwa
    Auf die Wahrheit verlassen habt dessen, was ihr gesagt habt.
    Ob es nicht vieldeutig ist, für jeden möglichen Irrtum
    Tragt ihr die Schuld. Es kann auch eindeutig sein
    Und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig?
    Dann ist es unbrauchbar, was ihr sagt. Euer Ding ist dann leblos
    Seid ihr wirklich im Fluß des Geschehens? Einverstanden mit
    Allem, was wird? Werdet ihr noch? Wer seid ihr? Zu wem
    Sprecht ihr? Wem nützt es, was ihr da sagt? Und nebenbei:
    Läßt es auch nüchtern? Ist es am Morgen zu lesen?
    Ist es auch angeknüpft an vorhandenes? Sind die Sätze, die
    Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt? Ist alles belegbar?
    Durch Erfahrung? Durch welche? Aber vor allem
    Immer wieder vor allem anderen: Wie handelt man
    Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: Wie handelt man?

    Nachdenklich betrachteten wir mit Neugier den zweifelnden
    Blauen Mann auf der Leinwand, sahen uns an und
    Begannen von vorne.

    (BB - der Zweifler)

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  7. der betreffende herr war mir nicht geläufig, ich kannte - mal abgesehen vom titel - noch nicht einmal den welthit, den er für eine bestimmte dame geschrieben hat. verblüffend allerdings, dass uns BB in verbindung mit ihm wieder begegnet, schon wieder säbelrasselnd - absicht?

    überhaupt, diese themenverdichtung: jürg acklins text trägt die überschrift: "die schweiz, die ich meine." untertitel: "der rechtspopulismus ist salonfähig geworden, doch um welchen preis? einer blickt zurück und in die seele unseres landes". die überschrift sollte nicht abschrecken, denn acklin kommt unter anderem darauf zu sprechen, wie es - aus heute kaum mehr nachvollziehbaren gründen - dazu kommen konnte, dass zu einer gewissen zeit intelligente junge leute gleichsam anstelle eines arguments das rote mao-büchlein in die höhe hielten ("wie die exorzisten die bibel"). für ihn, so der autor, hätten die zugehörigen demonstrationszüge jedoch immer einen bedrohlichen beigeschmack gehabt, der an die kaum verklungenen braunen fackelzüge erinnerte. massen sind auch mir unheimlich - wie passend, dass ich derzeit an einem gesprächszusammenhang teilnehme, wo es um deren regierbarkeit geht - im gouvernementalen kontext lässt auch hobbes grüssen, wenngleich nur am rande.

    nietzscheaner? nietzsche selbst wollte keine schüler. dennoch hat er welche bekommen (auch wenn sie, wie gesagt, nicht selten im gewand der kritik auftreten). ihre art von elitarismus ist mir allerdings genauso suspekt wie das phänomen der masse. dann ist mir doch ein idealistischer pragmatiker vom schlage jenes serbischen balladeurs lieber, der 1978 im namen seiner generation an tito das versprechen abgab "rechnet mit uns". 1988 musste er bereits ein 'requiem' darauf besingen, und seine warnung vor dem krieg blieb unerhört. der mann war wohlgemerkt in erster linie patriot und panslawist, nicht kommunist.

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  8. Djordje Balasevic - Rekvjium: grosse Klasse, mit dieser umhauenden urslawischen Traurigkeit.

    Ich finde es reichlich degoutant, wenn die Mao-Büchlein-Schwenker, die heute auf ihrem Marsch durch die Institutionen auf bequemen Chefsesseln insbesondere allüberall dort angekommen sind, wo Meinung gemacht und der öffentliche Diskurs "gelenkt" werden kann (seit 1999 vor allem in eine Richtung, oder Nicht-Richtung: GEGEN die Volkspartei), wenn diese Apologeten in eigener Sache heute Vernütigen und Verharmlosen, genau wie sie zitierten: Wie konnte es bloss dazu kommen?

    Dieser blinde unschweizerische Eifer, dieser Hass auf das Bürgerliche...na gut, die Schweiz war fett und selbstgefällig geworden nach dem gewonnenen, nichtgeführten Krieg, das schrieben Dürrenmatts und Frischs aber schon Ende der Fünfziger, da brauchte es keine Gegenkultur.

    Ach ich mag gar nicht daran denken, was die alles zerstört haben (und noch am zerstören sind - schauen sie nur jede zweite Diskussion, in der Pippi Dumpfstrumpf ihre ideologische Litenaien herunterbetet...). Und? Sind wir heute freier, sorgenloser, argloser oder gar glücklicher als in den verteufelten Fünfzigerjahren?

    Na schön, Ikonen muss man zuerst zerstören um sie neu aufzubauen :-)

    Leviathan - ist doch im Feld Internationale Politik ganz interessant! Ich habe kürzlich die UNO als einen neuerlichen Turm zu Babel bezeichnet, eine so ungeheuerliche Blasphemie (Weltregierung), dass sich bald ein bedrohliches Gewitter zusammenziehen sollte. 9/11 ist erst der Anfang, drei Blitze, von höherer Warte aus geschickt.
    Aber ja, ich bin ja bloss ein dummer Neokonservativer.

    BB war gar nicht begeistert von ihres Nachbars Musik, zu zürcherisch-bürgerlich und liess sie von Dessau neu schreiben.

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  9. balasevic hatte für seine düsteren klänge allen grund, wie die behelfsmässige übersetzung des liedtextes aufzeigt (ich muss ja nicht anmerken, dass ich mich der wortmelodie dieses begnadeten sprachmagiers nicht einmal im ansatz anzunähern vermag):


    wann immer ich die strasse entlang gehe
    die deinen namen trägt
    denke ich an jenes lied
    schon seit jahren singe ich es nicht mehr
    an dem alten refrain ist keinem mehr gelegen
    überhaupt, die menschen haben ein schlechtes gedächtnis für lieder,
    (mein) kommandant

    in den geschichtsbüchern wird sich
    auch unsere erzählung verewigen
    der balkan am ende eines jahrhunderts (einer ära?)
    jede ethnie zieht ihre grenzen
    sie alle möchten einen eigenen eintrag bekommen
    die träume schmelzen dahin wie eis,
    (mein) kommandant

    auf den barrikaden wehen wieder die flaggen
    man macht sich auf wie zu einem feiertag
    und die kinder werden aus dem morgentlichen unterricht herausgeführt
    damit sie die hungrigen arbeiter sehen
    und wo sind wir, wir naiven,
    die wir uns erhoben haben zu 'hej sloveni'
    als habe man uns (allein) zum zweck dieser geschichte ersonnen

    die zeiten sind unbequem für einen jüngling wie mich
    der sich um seine eigenen angelegenheiten kümmert
    ich bin keine marionette, die man nach belieben aufziehen kann
    ich habe doch nur dieses eine jugoslawien
    alle anderen fackeln brennen auch ohne mich
    (mein) kommandant

    auf den barrikaden wehen wieder die flaggen
    man macht sich auf wie zu einem feiertag
    und die kinder werden aus dem morgentlichen unterricht herausgeführt
    damit sie die hungrigen arbeiter sehen
    und alle sind sie da, um bei dieser lotterie kräftig abzusahnen
    auf den barrikaden sind sie immer die ersten
    aber nie auch die weisesten
    und wo sind wir, wir naiven
    die wir uns erhoben haben zu 'hej sloveni'
    als habe man uns (allein) zum zweck dieser geschichte ersonnen
    und betrogen

    wann immer ich an der strasse vorbeikomme
    die deinen namen trägt
    denke ich an (den ausspruch) panta rhei
    entsprechend wird der eine oder andere stein
    auf dein gedenkbild niederprasseln
    denn alles ändert sich, und alles fliesst
    (oh) mensch


    mit 'jenem lied' dürfte 'racunajte na nas' gemeint sein, 'hej sloveni' ist der titel der alten jugoslawischen hymne; schon ein jahr vor der veröffentlichung des requiems hatte balasevic eindringlich vor einem möglichen krieg gewarnt - kassandrarufe, die zu diesem zeitpunkt niemand hören wollte. ich denke tatsächlich, dass er einer humanistischen gesinnung sehr viel näher steht (und stand) als dem titoismus als solchem. was ihn hingegen von einem konservativen unterscheidet, ist das herz. irgendwie habe ich die floskel des 'mitfühlenden konservatismus' nie so richtig ernst nehmen können, selbst wenn begriffe wie eigenverantwortung und freiheit für mich definitiv wichtig sind. auch den zweifel ohne kopplung an weiterführende gedanken oder handlungen halte ich für floskelhaft.

    den binswanger und die roten überlese ich in der regel gefliessentlich. es mag mir auch gar nicht gefallen, dass letztere sich neuerdings im magazin der süddeutschen breit macht, hat sie doch im grunde nichts zu sagen.

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  10. weltregierung - verschwörungstheorie?

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  11. Tito, Jugoslawien, ein väterliches Prinzip - ein Ort mehr, wo es gemordet wurde. Der nachmoderne Mensch scheint nachgerade in blödsinniger Sturheit seinem ödipalen Zerstörungsdrang nachzugehen und sich gleichzeitig vor Sehnsucht nach dem Fehlenden, nach dem Vakuum (das er oft nicht einmal mehr benennen kann), zu verzehren - das ist vielleicht das Grundproblem des heutigen Mannes.

    Und der Spott, die Häme, die von der feminisierten westlichen Gesellschaften auf dieses noch als Gerücht vorhandene "paternalistische" Modell ergiesst, tut sein übriges.

    Aber es ist das Gleiche, wie bei anderen Dingen auch: so man es dermassen beschwören muss im Negativgemeinten, spielt es eben unter der Oberfläche eine nicht unwesentliche Rolle. Das Vaterprinzip ist bspw. auch in Gott verwirklicht.

    "Nach seiner Rückkehr hatte er vielmals die Hand des Vaters an den Mund geführt und sie geküsst. Dies Zeichen, das keiner Sitte mehr entsprach, kam aus seinem wiedervereinfachten Herzen und bezeugte den Dienst, den er der Liebe zugehörig empfand.
    Als wären von höherer Warte einige Partitioen seines Bewusstsenszurückgesetzt worden, RESET in den menschlichen Werkzustand. Er schien so in ein früheres ungeteiltes Denken und Fühlen eingekehrt, das weniger Rechte, dafür umso mehr Riten der Verbundenheit kannte."

    (Botho Strauss, Der Wanderer Elz, "Vom Aufenthalt", 2009)

    "Compassionate Conservativism" war der Wahlslogan von Bush 2000. Ich bin stolzer Besitzer der ersten Biografie, die damals auf Deutsch über ihn und seinen Wahlkampf erschien. Es bedeutet nicht mehr (und nichts weniger) als Föderalismus und Community-Gedanke: nicht zentralstaatliche Behörden und Versicherung (wie aktuell das debakulöse Health Care-Modell) sondern die kleinsten Zellen der Gesellschaft sollen sozial"staatliche" Befugnis und Verantwortung tragen (Kirchen, Wohlfahrtsinstitutionen, Charity - wussten sie, das die Amis pro Kopf rund das Vierzigfache für Charity spenden wie die Franzosen? - Suppenküchen, Homeless Shelters, Krippen, etc.). Passt in den Gedanken vom schlanken Staat und des Subsdiaritätsprinzip.

    Ihre Floskel "Humanist" bezeichnet etwas, was mir noch nicht ganz klar ist, es ist eine Chiffre für ganz bestimmte Eigenschaften, mila. Ich muss jetzt nur noch herausfinden, welche.

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  12. Soeben ein altes, staubiges Exemplar von Robert Blys "Eisenhans" aus dem Bücherregal geholt.

    Und die Sachen drüben mit dem "Roten Buch" sind auch sehr interessant...

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  13. da haben sie mich ertappt, orlando. der begriff des humanismus ist zwischenzeitlich derart mit bedeutung auf- und überladen, dass er im grunde nicht mehr anwendbar ist (das hat man mir zumindest an der uni beibringen wollen). wenn ich ihn dennoch gebrauche, dann im sinne der existenzphilosophie (nicht: des existenzialsmus) eines karl jaspers, die unter anderem in dessen arbeitung an nietzsche entstanden ist. dass unser philosoph auch psychiater war, wirft wiederum ein interessantes schlaglicht auf die diskussionen, die das frauenvolk 'drüben' führt.

    vaterfiguren. im 20. jahrhundert erwiesen sie sich nicht selten als in höchstem masse zerstöerisch: lenin, stalin, hitler, mussolini, mao, pot. alle diese herren inszenierten sich als weise, wenngleich gestrenge führer ihres volkes, was doch zu bedenken geben müsste. der fall tito verhält sich etwas komplizierter: auf der einen seite war er der einzige, der den in den weltkriegen nachhaltig zum kochen gebrachten südslawischen hexenkessel unter verschluss halten konnte. der preis war jedoch hoch; vielleicht kennen sie ja den ausdruck 'goli otok'?

    dazu eine geschichte aus der familie meiner mutter. im zweiten weltkrieg waren da drei brüder, von denen einer zu den partisanen ging, der andere sich den königstreuen tschetniks anschloss, und der dritte zuhause blieb, um haus und hof zu bewirtschaften. der partisane wurde noch während des krieges von den tschetniks hingerichtet, während der tschetnik sich nach kriegsende gezwungen sah, nach australien zu flüchten, um demselben schicksal zu entgehen - wie so viele andere brüder und unbrüder (die kroatischen ustasas) im geiste. bis in die 1960er jahre schickte er regelmässig postkarten und geschenke in die alte heimat. danach kam auf einmal nichts mehr: kein wort, kein lebenszeichen. man munkelt, er hätte so gehandelt, um seine zurückgebliebenen angehörigen vor allfälligen repressalien zu schützen. als man in den 1980er jahren über das rote kreuz nach ihm suchte, kam die antwort, es ginge ihm gut, er wünsche aber keine kontaktaufnahme. kürzlich ist er gestorben und hat eine kleine erbschaft hinterlassen, leider befinden sich jedoch keinerlei briefe oder dokumente darunter. er hat sich allem anschein nach selbst in höchst erfolgreicher weise aus der familiengeschichte gelöscht.

    vom dritten bruder, sie ahnen es, stamme ich ab. das unglück, dass die anderen zwei befallen hatte, lastete jedoch zeitlebens schwer auf ihm. meine grossmutter, seine grossenkelin, meinte vielleicht deshalb auf dem sterbebett, die familie solle diese verfluchte erde bloss so schnell wie möglich hinter sich lassen und nie mehr zurückblicken. meine mutter hat im eingedenk dieser worte auf ihr erbe - haus und ländereien - zugunsten meines onkels verzichtet und besucht ihr ehemaliges elternhaus nur noch selten. das ist der balkan, verdichtet in einer singulären erzählung.

    robert bly sagte mir nichts, aber ich kann nichts schlechtes darin entdecken, wenn männer könige, krieger oder wilde männer (anstelle von barbaren) sein wollen. solange man(n) mich nicht dazu zwingt, ein prinzessinnendasein zu führen, ist mir das noch so recht. milchbubis, profillose und nichtssager sind mein ding jedenfalls nicht.

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  14. Die von Ihnen genannten Despoten sahen sich schwerlich als "Väter", es sei denn als ultimative Pervertierung des Begriffs in ihren durchgeknallten und mörderischen Machträuschen. Sie alle gingen aus Revolutionen und Umwälzungen hervor und waren nachgerade von einem radikalen Bruch mit dem Alten, mit der Tradition, mit der alten Väter Sitte besessen.
    Die einzige Ausnahme ist vielleicht Kim Jong Il.

    Ich würde genau die genannten eher den Söhnen zurechnen, die sich ja lösen müssen und die sich einer Modernität hingaben, der sie nicht gewachsen waren und in ihrem Scheitern ganze Massen mit sich rissen. Die Tragödie des 20. Jahrhunderts!

    Zum Vaterprinzip taugen vielmehr Monarchen (Kaiser Franz Josef, Papst Johannes Paul II., Khomeini aber auch eine Königin Victoria - kann auch eine Frau eine Vaterfigur sein?) und teilweise nicht weniger despotische, aber eben väterliche Herrscher: Bismarck, Churchill, Eisenhower, Pinochet und eben Tito.

    Hm, die letztgenannten wurden auch alle von den "jungen Wilden" abgelöst, die meist kein Segen für ihre Völker waren und Unruhe brachten. Soviel zur Vater-Sohn Problematik.

    ***

    Das ist ja eine veritable Saga, die sie da zu erzählen haben. Balkan in a nutshell. Auch bei meinen polnischen Freunden habe ich immer wieder festgestellt, welch grosse Risse der Weltkrieg in Gesellschaften, Familien, Individuen gezogen hat. Mit meinen Grenzbefestigungs-Aktivdienst-Grossvater auf der einen und dem von direkten Kriegshandlungen auch weitgehend unbetroffenen ausländischen Grossvater auf der anderen Seite, ist es schwierig, sich da hineinzuversetzen.

    Wie sehen sie es: sind die Serben begabt, sich als Opfer zu geben, gibt es einen sozusagen genetischen Opferkult? Bei den Polen habe ich das an der Oberfläche oft so empfunden (nach 200 Jahren Unterdrückung!), wenn auch ganz tief drin ein gesundes Selbstbewusstsein steckt. Das sich in ihrem Fall aus der überstarken Religiosität nährt, die dieses Volk als einenden Mythos entwickelte.

    ***

    Dialoge des Weibervolks: Machen sie sich nicht allzugrosse Hoffnungen auf einen kontinuierlichen oder gar konsistenten Austausch mit Kat. Sie reagiert passiv-agressiv und ist äusserst launisch (hedonistisch?). Aber eine unkonventionelle Denkerin ist sie schon. Und phasenweise bei klarem Verstand.

    ***

    Wieso das ABER? Männer sollen Könige, wilde Männer oder Krieger sein ABER ich als moderne Frau will selber davon nicht betroffen sein. Mit dem domestizierten Modernmann ist eure ganze Emanzipation doch erst gelungen. Was, wenn der Mann sich seiner Wurzeln besinnt, meinen sie, das geht ohne Anpassungen im gegenseitigen Rollenverständnis? Seltsame Idee, mila!

    ***

    Neeein, jetzt muss ich mich auch noch für Jaspers interessieren...!

    p.s.: danke für den Support an den neuralgischen Punkten der Dramaturgie im gestrigen Mamablog-Theater.

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  15. De Gaulle, Adenauer, aber auch Willy Brand noch: gerade nach dem Blutrausch des Weltkriegs wünschte man sich das graumelierte, väterliche Prinzip zurück. Analogie zu Restauration (Metternich) und Biedermeierzeit, nach den Koalitionskriegen: Rückzug ins private, bürgerliche, Häuslichkeit.

    Dann die Unruhen von 1848 und 1968: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Verblüffend.

    Und immer könnte man es als Vater-Sohn-Ablösungskonflikte und Dominanz des Väterlichen, das Ödipus irgendwie erdolchen muss, sehen.

    Und wo stehen wir heute in der ewigen Wiederkehr des gleichen, im femininisierten Abendland?
    Ödipus fickt seine Mutter und sticht sich bei Sophokles die Augen aus am Ende.

    Mir schwant Übles.

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  16. ich sehe, orlando, sie wollen mich übers ganze wochenende beschäftigen. nun denn. das problem mit jedweder art von figur oder rolle ist eben, dass man sie mit etwas bösem willen nur zu leicht pervertieren kann. die ablösungsthematik, die sie schildern, finde ich als denkansatz allerdings in höchstem masse anregend. ich werde darüber sinnieren.

    à propos rolle: ich habe ihnen doch schon mehrfach zu verstehen gegeben, dass ich ein narr bin, mit einem leichten hang zur hohepriesterin vielleicht. das macht mich zu einem wandel- wie unvorhersehbaren chamälaon, das immer wieder zwischen den vorgegebenen gesellschaftlichen strukturen hindurchschlüpft. oder das zwischen den polen tanzt. in meiner brust wohnen passenderweise sicher mehr als nur zwei seelen.

    jaspers, dieser kluge und durch und durch integre mann, dürfte ihnen gefallen. wikipedia offeriert einen qualitativ akzeptablen und langen eintrag zu ihm, auch zu cassirer. von letzterem werde ich mir zu repetitionszwecken demnächst den 'essay on man' vornehmen. vorher muss ich aber benjamin durchkauen, dessen 'kunstwerk im zeitalter seiner technischen reproduzierbarkeit' zwischenzeitlich bei mir eingetrudelt ist - diese lektüre haben sie mir bekanntlich eingebrockt.

    für heute entschwindet madame an ein popkonzert, das orlando und gedankengewitter ganz grauslig finden würden. für mich bedeutet es im besten fall eine frischzellenkur. von serben, opfern und anderen schönen wie unschönen dingen demnächst mehr.

    PS:
    fufi hielt sich gestern auch nicht schlecht, trat aber vielleicht ein bisschen zu explizit auf. insofern habe ich mir den cyber-oscar für die beste nebendarstellerin allemal verdient. ha!

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  17. wie versprochen der nachtrag zu den serben. beim stöbern in einer arbeit aus studienzeiten bin ich auf folgende textpassage gestossen:

    In seiner grundlegenden Struktur steht der Kosovomythos aus serbischer Sicht zunächst zwar für das Ende einer goldenen serbischen Vergangenheit. Es leitet sich aus ihm jedoch zugleich das Versprechen einer neuen, ebenso goldenen Zukunft ab, die man mit dem Opfer der Vorväter gewonnen zu haben glaubte. Diesem Versprechen liegt auch der immanente Glaube an eine Wiederauferstehung des mittelalterlichen serbischen Königsreichs zugrunde, welches nach langen Jahrhunderten der Fremdherrschaft wieder alle Serben auf einem Gebiet vereinen würde. In der Ausbildung von Vorstellungen dieser Art spielten die heiligen Herrscher und Könige der Nemanjiden, gleichsam als leibhaftige Verkörperung ehemaliger Macht und Grösse, ihrerseits eine ausserordentliche Rolle. Mit ihnen wurden die gesellschaftlichen Werte, für die sie stellvertretend standen oder aber die im Nachhinein von aussen in sie hineinprojiziert wurden, in die Gegenwart übertragen und boten über den Kult eine neue, nachhaltige Identifikationsbasis. Ein Beispiel für ihre Wirkmächtigkeit sei genannt: Im Jahr 1803, vor Beginn des ersten serbischen Aufstandes gegen die osmanischen Besatzer, soll dessen späterem Anführer Djordje Petrovic (‚Karadjordje’) Stefan I. Prvovencani im Traum erschienen sein. Dies soll Karadjordje in seinem Entschluss zum ‚Kampf gegen das Osmanenjoch’ bekräftigt haben, so dass wir von einer ungebrochenen politischen Bedeutung der mittelalterlichen serbischen Heiligenkulte bis in die Neuzeit ausgehen können.

    Mit Mythen ist das jedoch so eine Sache: Auf der einen Seite entwerfen, stützen oder zerstören sie historisch wie gegenwärtig Selbst- und Fremdbilder von Gesellschaften. Auf der anderen Seite verweisen sie auf reell existierende emotionale Bedürfnisse, kann man doch sagen, dass Mythen ihrem Wesen nach über eine meist bewusst intendierte Vereinfachung komplexer Geschehnisse Vergangenheit auf das reduzieren, was ein bestimmtes Publikum von dieser glauben will oder glauben soll. Insofern kann man von einer geradezu existentiellen Bedeutung von Mythen sprechen, und es zeigt sich ferner, dass sie insbesondere in Phasen intensiven gesellschaftlichen Wandels eine Bedeutungssteigerung erfahren.

    In einer solchen Umbruchszeit befand sich Serbien zu Beginn des 19. und wiederholt gegen Ende des 20. Jahrhunderts, und wenn man sich eingedenk dessen die unterschiedlichen Entwicklungen Westeuropas und Serbiens im Verlauf von ausgehendem Mittelalter und Neuzeit vergegenwärtigt, so erstaunt es nicht, dass die serbische Befreiungsbewegung zur Begründung einer ‚modernen’ Selbstdefinition aus Mangel an anderen Möglichkeiten, wie sie dem Westen etwa von der aufklärerischen und demokratischen Tradition geboten wurden – einer Tradition, von welcher Serbien unter seiner 500-jährigen osmanischen Herrschaft grundsätzlich ausgeschlossen war –, an die Vorstellung einer ruhmreichen mittelalterlichen Vergangenheit anknüpfte. Man kann sich ausmalen, dass die ‚nationale’ Wiederentdeckung des mittelalterlichen Nemanjidenreichs unter den gleichen Bedingungen, wie sie Westeuropa erfahren hatte, wahrscheinlich einen gänzlich anderen Verlauf genommen hätte. In einem solchen Verlauf hätte sich wohl niemand ernstlich für die Traumerscheinung eines ehemaligen Königs aus früher Vorzeit interessiert, noch hätte man ausschliesslich auf einem Mythos die geistigen Grundlagen eines neuzeitlichen Staates aufgebaut.

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