Cocktails, gebrannte Wasser, Zigarrendunst -- die Gespräche an Orlandos Bar drehen sich um Medienkritik, Kultur, Philosophie, um Gesellschaftspolitik, Religion, Familie und Erziehung, um Mann und Frau -- und ums Kochen. Gejammer, Gelächter, Angeberei sowie gepflegte Beschimpfungen sind an der Tagesordnung.



Samstag, 31. Juli 2010

La Suisse et Le Parfait

"It is sometimes easier to fight for principles than to live up to them" (Adlai Stevenson 1900-1965)

Stevenson war der US-Amerikanische Diplomat und UNO-Botschafter seines Landes, der im Gange der Kuba-Krise 1963 im UN-Sicherheitsrat den sowjetischen Abgesandten zur Rede stellte und vor der Welt lächerlich machte, als dieser noch immer zu leugnen versuchte, dass es auf Kuba sowjetische Mittelstreckenraketen gab. Er sei bereit, zu warten, bis der Russe seine Beweise bringe, "until hell freezes over!" (bis die Hölle gefriert). Die braven Sowjetbürger sassen damals in ihren engen, kalten Mehrpersonenhaushalten mit ihren traurig-heroischen Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg und wussten von der ganzen Sache: nichts. Da war keine Presse, es gab kein Medium, das frei und kritisch berichten konnte, was im Arbeiterparadies oder in der Welt geschah. Die einzige Zeitung - die Pravda ("Wahrheit" - ausgerechnet) schrieb über eine Wirklichkeit, die dem Zentralkommittee genehm war, eine Wirklichkeit die es in Wirklichkeit gar nicht gab!

Freie Presse, freie Wohnort- und Berufswahl, freie Wahlen und eine freie Zivilgesellschaft in der diskursiv ermittelt wird, welche Projekte, Ideen und Experimente man als Gemeinschaft wagt - das gab es in Russland damals nicht. In der Schweiz zur gleichen Zeit aber schon. Die Schweiz hätte es im Gegenteil gar nicht gegeben, hätten die Schweizer, die Bürger dieses Landes sich solche Freiheiten nicht erkämpft. Das war damals nur drei, vier Generationen davor. Ganz Europa hatte hysterisch gekichert, als die Schweizer sich eine demokratisch-freiheitliche Verfassung gaben.

Unsere Verfassung und unser Staat ist geblieben - wo sind jene, die damals lachten? Man kann sie im Geschichtsbuch suchen, der Rest ist bekannt.

Und wieder stehen wir am Scheideweg: ganz Europa scheint über diese störrischen, hoffnungslos rückständigen Schweizer zu lachen, die lieber den beschwerlichen, unsexyen, "unmodernen" Weg als Aussenseiter gehen - wie unpassend!

Alle Schweizer? Nein, ein kleines Grüppchen von Chefintellektuellen in den Schreibstuben der Nation im Verbund mit ein paar Künstlern und Euroturbos unter den Volksvertretern arbeiten hart an der Abschaffung unseres Landes und höhnen am lautesten über den dummen Tubel von Bürger, der einfach nicht wahrhaben will, dass der bequemere Weg auch der bessere Weg ist.

Fast scheint es, in Umkehrung des Spruchs von Adlai Stevenson, dass es heute einfacher ist, Prinzipien zu leben, sprich: die Vorteile des "Sonderfalles", eines freien, unabhängigen und reichen Landes zu geniessen. Beim geringsten Widerständchen aus dem Ausland sofort das Sturmgewehr im Zeughaus zu deponieren und mit weissen Leintüchern die Kapitulation zu erklären und mit Tränen der Dankbarkeit sich der Apotheose, dem Aufgehen im hlg. röm. Reich europäischer Nation sehnsüchtig hinzugben. Komm o Grosser Karl und schwängere mich mit deinem bürokratischen Pfahl, reiss mich in ghaddaffische Stücke und lass mich in süsser Selbstnihilierung glühend den Speichel seliger Dazugehörigkeit lecken und den Odem ganz europäischer Gewöhnlichkeit schnüffeln. Schmacht!

Ist es nicht tatsächlich so, dass der Pazifist Stevenson hier und heute in seiner Umkehrung wahr ist: Es ist einfacher Prinzipen zu leben und sie für selbstverständlich zu nehmen, aber wenn es darum geht, für sie enzustehen, um sie zu kämpfen und zu verteidigen, dann hängt das helvetische Schnäbi ganz tief (oder bammelt mehr so vor sich her, weil man es gewiss per autonomem Nachvollzug bereits auf EU-Norm heruntergeschrumpft hat)?

Was denken Sie? Sollten wir uns aus dem engen Gefängnis unseres Schweiztums befreien? Oder hatte Urs Paul Engeler recht mit seiner Feststellung: "Die Schweizer sind heute eine Ansammlung von Menschen, die sich amüsieren wollen, möglichst ohne Widerstände und jedem bei jeder Gelegeheit zu verstehen geben, dass sie nichts lieber als gleich wie das Ausland wären"? Wäre es da nicht besser, wir beenden das Experiment Schweiz und werden ganz normale EU-Bürger?

Um auf die Schweizer des Jahres 1963 zurückzukommen: meinen heutigen Eintrag widme ich aus gegebenem Anlass einer schweizerischen Spezialität sonder gleichen, die es so nirgendwo gibt, und zwar seit 60 Jahren!

Le Parfait symbolisiert für mich alles was Schweizerisch ist:

- Sparsamkeit (keine Paté sondern Hefe als Grundbestandteil)
- Charme (sämig, nicht zu würzig, nicht zu fettig, nicht zu klotzig, nicht zu bunt)
- Fleiss und Innovation (im Krieg aufgrund von Knappheit entstanden)
- Interkulturalität (wer hat's erfunden? Ein Welscher.)
- Pragmatismus (le Foie dans le Tube? Les Francais rümpfe les Nazes!)
- Modernität (es gab mit der Zeit eine Gelbe mit Geflügelleber, eine Vegi und eine Thunfisch)
- Erfolg (erst Schnapsidee eines Studenten, später kaufte es Nestlé)
- Tradition (lange ein Familienbetrieb im Freiburgischen)
- Integration (ob Kroate aus Basel oder Tamile aus Brig - jeder kennt es! Jeder mag es!)
- Sozial (liegt beim Millionär genauso wie beim Strassenwischer im Kühlschrank)
- Weltoffenheit (überaschen Sie mal Freunde aus dem Ausland damit...!)
- Vielseitigkeit (fürs Canapé genauso wie fürs Picknick)
- Freundlichkeit (es kommt noch ein Schlaargg wenn man die Tune fachmännisch auspresst)
- Chic, ja fast Eleganz (siehe Bilder)
- Amicable (die Tube wandert im Kreis beim Picknick)
- Sexy (der Gentleman schweigt. Stichwort: Frühstück im Bett...!)


Ihne en schöne erschte Auguscht! Until hell freezes over!

12 Kommentare:

  1. Happy 719th birthday, Switzerland!

    Einen gluecklichen siebenhundertundneunzehnten Geburtstag, Schweiz!

    siebenhundertundneunzehn...man soll das langsam vor sich hin sagen...siebenhundertundneunzehn.

    Nicht schlecht.

    Le parfait ist eine feine sache. hier nicht erhlaeltich - leider.

    Orlando: kleiner fehler im lead-in:

    "It is sometimes easier to fight for principles that to live up to them" schreibt sich:

    "It is sometimes easier to fight for principles than to live up to them" - than, nicht that.

    kannst den sprachpingeler dann loeschen aus meinem post.

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  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  3. Im Geschichtsunterricht lernten wir, dass die Bernische Regierung am 5. März 1798 den Kapitulationsvertrag mit den Truppen Napoleons unterschrieben. Der Auftritt am 5. März war eine reine Medieninszenierung ohne rechtliche Bedeutung.

    Die Warheit ist, dass die Regierung schon am 2. März heimlich einen Kapitulationsvertrag unterschrieben hatte. Das war lange bevor Bern angegriffen wurde.

    Die Berner Bevölkerung wurde nicht informiert über die Kapitulation.

    Die Bürger machten einen riesigen Auflauf vor dem Zeughaus und forderten ihre Gewehre und Munition heraus. Die Regierung wollte die Waffen nicht geben, weil ja schon kapituliert war. Nach langem Hin- und Her gab man die Gewehre dann doch noch heraus, weil man den Volksaufstand fürchtete.

    Am Grauholz in der Kälte und im Schiff warteten dann am 5. März zwei Batallione Berner Füsiliere, ohne Artillerie ganz alleine auf eine ganze französische Armee.

    Die Schlacht von Neuenegg war ebenfalls nach der heimlichen Kapitulation. Die Frutiger waren im Eilmarsch herbeigekommen. Der kommandierende Oberst in Neuenegg befahl den Rückzug. Die Frutiger erstachen ihn in der Nacht vom 4. auf den 5. März, griffen die Franzosen an und gewannen die Schlacht.

    Der Oberst hatte nicht aus Feigheit den Rückzug befohlen. Ihm hatte die Regierung heimlich einen Boten geschickt, die Kapitulation mitgeteilt und den Rückzug befohlen.

    Das Buch muss ich noch hervorsuchen.

    Die Burgergemeinde Bern zahlt jährlich ein Buch zur Bernischen Geschichtsforschung. Einmal ging es um die Kapitulation des Staates Bern vor Frankreich.

    Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum unsere Soldaten heutzutage ihr Gewehr zuhause haben: Damit die Regierung nicht heimlich und hinter ihrem Rücken kapitulieren kann.

    Die bernische Elite, so wie der grösste Teil aller städtischen Eliten in jener Zeit waren "weltoffen", "kultiviert", fanden die Franzosen seien die "Zukunft Europas", die Schweiz sei in "Sicherheit".

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  4. Danke für die Korrekturen und Beiträge, liebe Leute!
    Und einen schönen Feiertag.

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  5. Hallo ihr Lieben¨

    bin retour von den Ferien.

    Ich brauche ja ^Wochen bis ich alles nachgelesen habe.

    Eni

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  6. @Eni
    Willkommen zurück aus den Ferien. Hatten Sie schönes Wetter?
    Wochen nicht grad, ist nicht viel gelaufen.

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  7. @ max

    Nein, war leider oft ziemlich kalt in Leukerbad, das nächste mal nehme ich Winterkleider mit. Den Kindern hat es trotzdem gefallen, solange man jeden Tag etwas unternommen hat.

    Die Landschaft ist grandios. Am 1. August gab es ein Feuerwerk an der Gemmi-Wand. War ziemlich imponierend, viel überwältigender als am See. Finde zwar Feuerwerk umwelttechnisch bedenklich, aber zum ansehen ist es wirklich schön. Selber gekauft habe ich keines, war bis zum letzten Momment Feuerverbot im Wallis. Bin eigentlich froh drum: wenn ich 70 oder 80 Franken dafür ausgebe hat man doch nichts rechtes, da gebe ich das Geld lieber für etwas anderes aus.

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  8. @zysi

    Ihre Beiträge habe ich inzwischen gefunden.
    Ich habe auch schon eine Antwort geschrieben. Der SPAM Automat von wordpress hatte zugeschlagen. So ein Pech!

    Also: Bei "Ein max, ein Wort" in den Beitrag über "Wybergstürm bei mamablog" schauen.

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  9. a propos mamablog von heute:
    Wieder einmal dominiert der Pipinator. Die hat wenigstens eine eigene Meinung. Widersprechen tut keiner, höchstens viel Herumblödeln von wegen der Artikel sei blöde und solche Kategorien hätten gar nichts mit Vatersein von heute zu tun. Selbstverständlich landete mein eigener Beitrag im Löschorkus. Wäre ja ein Jammer, wenn sich noch ein richtiger Mann in die Diskussion einschalten täte!

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  10. Ich hoffte, dass nach der aufgewärmten Suppen wieder spannende Themen kämen, aber ausser die Carde Blanche mit den Hunden und den Abtreibungsartikel von Binsi ist alles zum Gähnen. Eine Frechheit, wie leicht man als Journalistin Geld verdienen kann.

    @ max

    Warum senden Sie Ihren Beitrag nicht hier oder bei max, würde diesen gerne lesen.

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  11. @Eni

    Morgen früh. Aber es war nur ein Blödelbeitrag über richtige Männer und Pampers-Schleichwerbung. Muss noch schauen, wie man da etwas ernstes daraus machen kann.

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  12. @ max

    Warum muss der Beitrag ernst sein? Es gibt doch schon wenig genug zu lachen.

    @ Orlando

    Sind Sie in den Ferien?

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